Tagebuch vom 07.01.2008

Nach drei Tagen Nachtschicht fühle ich mich wie ein wandelnder (Un-)Toter. Ist es da ein Wunder, dass mir Ideen für Zombie-Geschichten nur so zufliegen? 😉

Aber ich will mich nicht beschweren. Schließlich gibt es Menschen, die einen Monat, ein Jahr oder – wie ein Arbeitskollege – 23 (!) Jahre Dauer-Nachtschicht schuften.

Ich habe gelesen: „VON DER ZÄRTLICHKEIT DES ÜBERMORGEN“ von Marlies Eifert und Georg Grimm-Eifert, für die es von mir 3 1/2 von 5 Roboterstreicheleinheiten gibt. Und da ich ungern ein Gesamturteil zu Anthologien abgebe, weil dadurch total verschiedene Geschichten und Autoren über einen Kamm geschert werden, folgt eine ausführliche Bewertung.

„Von der Zärtlichkeit des Übermorgen“ lautet der Titel der neuen Anthologie von Marlies Eifert und Georg Grimm-Eifert. Die Hoffnung der Herausgeber, dass dem Titel eine farbige Palette fantasiereicher Einsendungen zufliegen würde, ging meiner Meinung nach in Erfüllung. Um der Vielzahl und dem Ideenreichtum der Geschichten gerecht zu werden, wird im Folgenden kurz auf jede Geschichte eingegangen.

Der „Schokoladenkuchen“, so lautet der Titel der ersten Geschichte der Anthologie aus der Feder von Oliver Baron, dient nicht als Pointe sondern als Initialzündung für eine Reihe neuer (alter) Erfahrungen. Alice, eine technikabhängige, isoliert lebende junge Frau in der Zukunft erhält ein ungewöhnliches Geburtstagsgeschenk, das sie auf eine kulinarische Reise in die Vergangenheit befördert.

Jutta Döpfer schildert in „Ameisenfleiß und Spinnenliebe“ ein spannendes Setting; leider bleibt es bei der vagen Beschreibung der Situation und der Entwicklungen, die darüber hinaus in sich nicht stimmig und wenig glaubhaft sind. Die Umsetzung des Konzepts in einer Geschichte fällt mit nur wenigen Sätzen viel zu kurz aus.

Mit der Sprache und dem Umgang der Jungen mit den Alten (und umgekehrt) setzt sich Ursula Eggli in „Streichelhändchen“ auseinander. Zuerst kommt die Geschichte oberflächlich daher, aber mit dem besonderen Streichelhändchen tritt überraschend ein neues Element auf, das im weiteren Verlauf sehr gut eingesetzt und weiterentwickelt wird.

In „Expedition“ reist Marlies Eifert mit ihren Protagonisten in die Weiten des Weltalls, um ein fremdes Volk zu studieren. Es geht um das Leben und den Tod und um … Aber mehr soll an dieser Stelle nicht verraten werden.

In ihrer zweiten Geschichte, „Cleons neue Wege“, erzählt Marlies Eifert von einer ungewöhnlichen Dreierbeziehung zwischen einer Frau, ihrem Mann und dessen Double. Durch Rückblenden, gekonnt in die Haupthandlung einflochten, entsteht ein dichter Bilderteppich aus Gedanken und Emotionen.

Mit „Der Aussichtsturm“ liefert Rolf Eisel eine Mischung aus Lyrik und Prosa ab. Dabei gelingt ihm der Wechsel in die Perspektive des Übermorgen durch die melancholische Sprache sehr gut.

Bei der zweiten Geschichte von Rolf Eisel, „Das Versprechen des Übermorgen“ oder „Die Zeit“, handelt es sich nur um einen kurzen Abriss, ein Gedankenfragment. Kurz, prägnant und auf den Punkt gebracht.

„Ich liebe dich“ von Arno Endler unterscheidet sich schon durch die Form von den bisherigen Texten. Die Geschichte entwickelt sich in Gestalt eines Chat-Gesprächs. Zuweilen wirkt der Dialog etwas gekünstelt und wird zu stark eingesetzt, um das Setting zu beschreiben. Aber insgesamt ein netter Einfall mit einer augenzwinkernden Pointe.

In Antonia Fourniers „Auf den Hund gekommen“ folgt einer ungewöhnlichen Entführung eine noch ungewöhnlichere Rettungsaktion. Der Hund bricht auf zu einer (Zeit-)Reise und sucht die verlorenen Dosenöffner.

In der zweiten Geschichte von Antonia Fournier, „Lisas Abenteuer“, vermengt die Autorin Kettenflugobjekte mit Hexen – eine eigenwillige und gewöhnungsbedürftige Mischung. Die Perspektivenwechsel innerhalb des Fließtextes sind störend, und leider wechselt auch die Formatierung der Schriftart, was das Lesevergnügen schmälert.

Der Titel zu Georg Grimm-Eifert erster Geschichte –„Das Gespenst von Cantervrille und die Weltraumkapsel“ – trifft den Nagel auf den Kopf. Hier bekommt der Leser eine kurze Anekdote zu lesen, mit einem Augenzwinkern fabuliert.

Die zweite Geschichte, „Amouropp“, von Georg Grimm-Eifert nimmt etwas mehr Platz in Anspruch. Sie handelt von einer Erfindung, die die Marotten eines Paars behandeln soll. Mit zweifelhaftem Erfolg …

Wie es der Welt und ihren Bewohnern geht, wenn auf einmal überall keine Elektrizität mehr durch die Leitungen fließt, dazu stellt Katja Groß in „Strom (-L) los“ ihre ganz eigenen Überlegungen an.

„Kara“ lautet der Titel der Geschichte von Nadine Ihle und eines Kindes, das in der Zukunft geboren werden soll. Die Haupthandlung und Informationen zum Setting sowie kurze Gedankeneinschübe wechseln sich regelmäßig ab. Linear und gelungen erzählt.

In „Mein Waldspaziergang“ von Ingebord Inden begibt sich die Ich-Erzählerin auf einen Ausflug ins Grüne im Jahr 2070. Erinnerungen an die Vergangenheit, ein gegenwärtiges Wachrütteln und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Eine Perle in der Sammlung ist die Geschichte „Hier wie dort“ von Barbara Jung, die mit 15 Seiten zu den längeren Kurzgeschichten zählt. Sie schildert die Flucht zweier Liebenden, ihre unfreiwillige Reise zur Burg des Strafenden Gottes und die Suche nach einem Ort des Friedens. Temporeich und mitreißend, aber nicht ohne den erhobenen Zeigefinger.

In „Billardpartie“ gilt es, eine große Gefahr abzuwenden. Die Menschen leben in einer Welt nach einer großen Katastrophe. Wie eine Billiardpartie die Erde retten kann, und dass man diesen Begriff nicht allzu wörtlich verstehen sollte – diese und weitere Geheimnisse lüftet Regina Károlyi in ihrem Text.

In der zweiten Geschichte von Regina Károlyi, „Romeo und Julia 2212“, entwickelt sich eine ungewöhnliche Liebe. Isoliert und von Technik kontrolliert fristet der komplex benannte Protagonist sein Leben, bis eine Frau mit ihm Kontakt aufnimmt. Eine Frau aus Fleisch und Blut. Seine Julia …

Jürgen Landts Kurzgeschichte “die bank im sein” lässt sich am Treffendsten als ein Science-Fiction-Text mit expressionistischen Elementen beschreiben. In einem wahren Sturm von Gedanken verarbeitet der Erzähler ernste Themen, Abstruses und Humorvolles.

In „Tabaneas und Belemos Traum“ von Barbara Lorenz sticht ein Satz besonders hervor: „Durch den Warpantrieb ist mehr Unheil noch schneller durch die Galaxie gereist“. Die Konsequenzen dieser Entwicklung und die Strafe für Weltverbesserer stehen im Mittelpunkt der Kurzgeschichte.

Um Klangwelten und Entspannung geht es in Nele Mints Text mit dem Titel „Der Ohrwurm“. Ein so genannter Audiokünstler kommt zu Besuch und verspricht, dass er sich um die störenden Fremdgeräusche kümmert. Ein folgenschweres Angebot …

In ihrer zweiten Geschichte, „November 2030“, beschreibt Nele Mint den Alltag in der Zukunft: das Leben in einer WG, einen Arztbesuch und den ganz alltäglichen Einkauf.

Wer wissen möchte, was ein Kater, eine Operation und eine Entmannung miteinander zu tun haben, und wie diese ungewöhnliche Mischung zum Motto der Anthologie „Die Zärtlichkeit des Übermorgens“ passt, der sollte sich Liane Mandts „Trotzdem“ zu Gemüte führen.

In „Eva“ von Regina Regling geht es um so genanntes „flexibles Homeworking“. Statt den sonstigen Online-Kontakten trifft der Protagonist unerwartet eine Frau aus Fleisch und Blut, um die er sich redlich – vielleicht zu redlich – bemüht.

Bei dem Titel zu Jean Claude Rubins „Essay“ handelt es sich um keinen ausgefallenen Einfall. Der Text ist das, was die Überschrift verspricht: ein Essay. In diesem widmet sich der Autor der Vergangenheit, der Gegenwart und besonders der Zukunft. Er philosophiert über den Mensch, die Politik und andere Themen. Ein ungewöhnlicher Text inmitten der anderen Geschichten, dennoch ansprechend und informativ.

Wenn ein Mensch mit einem Nosriden kommuniziert, kann es schon einmal vorkommen, dass der Name der schönen Stadt Münster wie Monster klingt. So heißt auch der Titel von Reginas Schlehecks Geschichte, in der es um die Verständigung mit einem Außerirdischen geht.

Silvia Schlechtes „Computerliebe“ klingt wie ein moderner Hilferuf. Die Hauptfigur sehnt sich nach menschlichem Kontakt außerhalb der virtuellen Computerwelt.

In Adelheid Schmidts „Grüne Augen – blaue Mohnblume“ werden Blumen tatsächlich künstlich gefärbt. Eine kurze Kurzgeschichte über Künstlichkeit und Natürlichkeit.

Sehr gefühlvolle Töne stimmt Elisabeth Seiberl mit „Die Ironie der Zärtlichkeit“ an. In der Kindheit genießt der Protagonist ein Übermaß an Zärtlichkeit, das mit zunehmendem Alter abnimmt; gleichzeitig wächst die Sehnsucht nach der einst erfahrenen Zärtlichkeit. Ein Wechselspiel der Gefühle in Verbindung mit dem Prozess des Alterns.

In der Zukunft von Jürgen Steins Text „Das soll nie wieder vorkommen“ geht nichts mehr verloren. Alles wird mit einer Kodierung versehen und kann jederzeit gefunden werden. Aber was, wenn eine alte Anstecknadel ohne Kodierung unauffindbar verschwindet? Eine Odyssee durch die Welt der Bürokratie nimmt ihren Lauf.

Ein absolutes Highlight der Anthologie ist die Kurzgeschichte „Fixstern“ von M. Führer und F. Stummer. Ein Ehepaar kommuniziert via E-Mail, jede Nachricht ist eine kleine ruhige Insel inmitten der Hektik des Alltags. Längere Arbeitszeiten und weniger Urlaub – die Entwicklungen der Zukunft stellen das Eheleben auf die Probe. Auch das Konzept „Elternglück in der Pension“ gefährdet die Liebe. Inhaltlich wie sprachlich treffend und ansprechend umgesetzt transportieren die Autoren eine runde Geschichte.

Der Titel „Männerhass spricht zu Weiberhass“ ist in der Kurzgeschichte von Franz von Stockert Programm: In Form eines Theaterstücks, eines Sketches, sprechen die beiden unterschiedlichen Stimmen miteinander. Kurzweilig und komisch.

Dr. E. Therre-Staal schickt einen Bücherwurm der Zukunft in „Der Wurm ist, was er isst“ auf einen Streifzug durch die Bücherwelt. Angesichts mangelnder geeigneter Nahrung stößt der Bücherwurm schon bald auf köstlichen Ersatz. Absurd und abgefahren.

Wie zärtlich es sein kann, wenn auch in der Zukunft noch jemand an einen denkt, dieses Gefühl transportiert Andrea Tillmann in „Andere Worte“ sehr gut.

Am Anfang der Kurzgeschichte „Das erste Kind im Staate“ von Andreas Dresen steht ein neues Grundgesetz der neuen Republik, das den Fortbestand der westlichen Art sichern soll. Von der Umsetzung des Gesetzes und den Folgen für die Menschen handelt der folgende Text.

Die Autoren der Anthologie spielen auf allen Saiten: von leise und hintergründig bis laut und direkt, mal nachdenklich, mal komisch und romantisch.

Alphabetisch nach den Nachnamen der Autoren geordnet finden sich 35 Texte von 30 Autoren in der Geschichtensammlung. 35 Kurzgeschichten (inklusive Vorstellungen der Autoren) auf 222 Seiten heißt, dass die Texte insgesamt kurz, manche sehr kurz ausfallen. Es bedeutet aber auch ein kurzweiliges und abwechslungsreiches Lesevergnügen: egal ob kurz vor dem Einschlafen oder für Zwischendurch in der S-Bahn: Das Buch lässt sich schnell aufklappen und ein ganzer kurzer Text lesen. Ein ansprechendes Cover und 15 Bleistiftzeichnungen von Georg Grimm-Eifert runden das Gesamtbild ab.

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